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Das Gleiche ist nicht dasselbe
(10/08/02; ergänzt Ende 2011 sowie 2012/13/14, 2016/17 und 2020)


Vor vielen, vielen Jahren tauchte einer der hübschesten französischen Titel erstmals auf: Der Gründeranteil des Café de la Paix von 1921. Wegen der Schönheit, der vorgerechneten Seltenheit und — nicht zuletzt — weil erzählt wurde, dies sei ein Papier des weltberühmten Pariser Restaurants nahe der Oper, erzielte es auf Auktionen Zuschläge von mehreren Tausend Franken. Obwohl im südfranzösischen Béziers ausgegeben (und die Abbildungen nicht zu Paris passen), ist die Mär fast nicht wegzukriegen.

«Café de la Paix, Béziers»
Café de la Paix, Béziers 1921, Gründeranteil ohne Nennwert

Ferien erlauben Umwege, also kann man auf dem Weg nach Süden eine Rast einlegen und sich in Béziers umschauen — auch wenn der Michelin es nicht ausdrücklich empfiehlt. Spaziert man die 600 Meter langen Allées Paul-Riquet hinauf, steht oben das Théâtre Municipal (Béziers ist sehr stolz darauf, denn es ist einer italienischen Oper nachempfunden und innen ganz mit Holz ausgebaut). Das Stadttheater ist unverkennbar links auf dem Titel abgebildet, getreu bis in die Einzelheiten.

«Théâtre Municipal Béziers»
das Stadttheater wurde 1844 eröffnet und trägt oben
zwei Reliefs des Bildhauers Pierre-Jean David (genannt David d'Angers)

Wendet man den Blick nach rechts, entdeckt man zwar nicht das Grand Café de la Paix, aber ein bekanntes Gebäude: Es ist Haus Nummer 5, wo einst dieses Restaurant zu finden war. Auch hier stimmen die Details mit der Abbildung auf dem Titel überein — die Anzahl Stockwerke, die Dachaufbauten, die Brüstung, die vier Portale usw. —, es ist dieser Bau. Der dekorative Gründeranteil ist zweifellos in Béziers zuhause und hatte ausser dem Namen (wie viele «de la Paix» weltweit) nur die Idee mit dem Pariser Lokal gemein. Heute geschäften im Erdgeschoss ein Photoshop und ein Ableger der Billigkette Monoprix, im ersten Stock hat eine Immobilienagentur ihre Bureaux; viel mehr erkennt man nicht. Das Gebäude zeigt deutliche Altersspuren — die Giebel, Figuren und Verzierungen sind stark verwittert, und Teile sind abgebrochen —, dennoch erahnt man betrachtend den einstigen Glanz dieses Hauses.

«Grand Café de la Paix, Béziers»
das Gebäude des ehemaligen Grand Café de la Paix
   
«in the middle»
«on the right»
«Balustrade»
«Thétre et Café»
centre
droite
rambarde
T&C


Von diesem Papier sind mir 31 Exemplare mit Nummer bekannt, nämlich der Einzelgänger Nr. 439 sowie eine Gruppe zwischen Nr. 1284 und Nr. 1337, gleichmässig verteilt (btw bin ich mir gar nicht sicher, ob der Gründeranteil und die Aktie mit einer Auflage von 2'400 Ex. dasselbe sind, denn meistens sind es zwei verschiedene Titel). Gegenwärtig dürften also insgesamt um 55 Exemplare der «part de fondateur» im Markt sein — und auch ohne Pariser Gerücht («zeigt das berühmteste Café der Welt») ist es ein herrliches Stück.

«Béziers — billet l'entrée du vin»
Billet pour l'entrée du vin, Béziers 1789, mit dem Stadtwappen im Kopf;
die Akzise (Stadtzoll-Quittung) erlaubte dem Prior des Klosters St. Jacques,
sieben Muids Rotwein (insgesamt 4'900 Liter) in die Stadt einzuführen

Béziers, im südfranzösischen département Hérault zwischen Montpellier und Narbonne auf einem Plateau am linken Ufer des Orb gelegen, war einst die Kapitale des Weinhandels im Languedoc-Roussillon, Frankreichs grösstem Weinproduzenten. So ist es nicht erstaunlich, wenn man einige önologische Spuren findet (wie diesen Billet, den hübschen Bon oder die Jubiläumsmedaille).

«Société Marseillaise de Crédit»
Société Marseillaise de Crédit, an den Fenstern das Logo der Bank

Umrundet man das Stadttheater, gelangt man auf die Place de la Victoire, wo das Bankhaus der Société Marseillaise de Crédit steht. Anscheinend war dies früher der Sitz eines längst vergessenen Instituts, der Banque Commerciale & Viticole, die uns einen weiteren dekorativen Titel hinterliess.

«Banque Commerciale & Viticole»
Banque Commerciale & Viticole, Béziers 1922, Aktie über FFR 500;
dazu das pendant in Grün: der Gründeranteil aus demselben Jahr

Die SMC («la Banque du Sud») hat eine bewegte Geschichte hinter sich: Gegründet 1865, wurde sie 1982 verstaatlicht, dann 1998 vom Crédit Commercial de France aufgekauft — mit der HSBC als Hauptaktionär 2005 zur HSBC France umgetauft — und 2008 herausgelöst, um Teil des Groupe Banque Populaire zu werden.

Produits Otto, action Aktie 1919
ein seit Jahrzehnten bekannter Deko-Titel, ebenfalls von Cadenat Frères:
Produits Otto — Œnologie Viticulture, Béziers 1919, Aktie über FFR 100
   
«Produits Otto, action Aktie 1920»
«Produits Otto, Phosphofermentol»
«Produits Otto, Cappiello poster bill»
«Crédit du Midi, Aktie action 1922»
2. Em. 1920
poster bill
Cappiello
Crédit du Midi


Es ist immer wieder spannend und wundersam, was die alten Aktien, Obligationen, Schecks, Quittungen — was die «Nonvaleurs» erzählen und verheimlichen …

«Allées Paul Riquet»
ein Blick hinunter in die Allées Paul Riquet

«Pierre-Paul Riquet»
Denkmal für Pierre-Paul Riquet, Baron von Monrepos und Graf von Caraman,
Erbauer des Canal du Midi aka Canal des Deux Mers

Zurück zum Thema, dem Café de la Paix — der gleiche Name, aber nicht dasselbe Lokal. Das weltberühmte Restaurant steht in Paris, 5 Place de l'Opéra/Ecke Boulevard des Capucines. Wertschriften dieses Unternehmens gibt es nicht (das Café war immer Teil des Grand Hôtel — ehemals das 1862 gegründete Grand Hôtel de la Paix, heute InterContinental Paris Le Grand), aber ein Immobilienpapier des entsprechenden Strassenzugs zeigt das Gebäude.

«Blvd des Capucines»
Société Civile Immobilière du Boulevard des Capucines, 1890,
die hypothekargesicherte 3%-Oligation über FFR 500 lief 75 Jahre;
ein Ausschnitt zeigt das
Pariser Café de la Paix

Fürs Auge ansprechender ist die Droschken-Aktie, der Fuhrhalter des Grand Hôtel. Sie zeigt nicht nur die Kutschen, das «core business» der Firma, sondern sehr schön Hotel und Restaurant an der Ecke bei der Opéra Garnier.

«Cie des Voitures du GrandHôtel»
Compagnie des Voitures du Grand Hôtel, 1899, Aktie über FFR 100,
im filigranen frühen Jugendstil, wie das Pariser Café de la Paix

Die Pariser Oper entstand 1860–75 im Auftrag Napoléon III. und ist ein Werk des Architekten Charles Garnier. Es gibt keine Titel der Oper selbst, aber die Aktie von 1906 der Produktionsgesellschaft «Association Phonique des Grands Artistes» (APGA) zeigt sie wunderhübsch.

«Cie des Voitures du GrandHôtel»
Association Phonique des Grands Artistes, 1906, Aktie über FFR 100;
alle mir geläufigen Stücke stammen aus der 3. Emission vom 30. Oktober
über FFR 600'000, als das Aktienkapital auf FFR 1 Million erhöht wurde
(photo: courtesy of scripophily.com)

Zwar bestand das Unternehmen nur wenige Jahre — die mehrheitlich beteiligte Bank ging Bankrott, die Firma wurde des Betrugs verklagt, 1912/13 setzte das Handelsgericht den amtlichen Schlusspunkt unter die APGA und Pathé Frères schluckte die Reste —, aber das vom Plakatmaler Paul Poncet im Jugendstil gestaltete Wertpapier ist gut gelungen und beliebt.

«Le Grand Hôtel Paris label»
Le Grand Hôtel, Gepäcketikette, ca. 1930–35

Béziers war den Umweg wert: Der Gründeranteil hat seinen Platz gefunden, die Gedanken weilten in Paris, ich spürte wieder einmal, wie Zeit prägt und vergeht — und der Espresso in der Fussgängerzone ist lecker.

«Grand Café de la Paix Béziers jeton»
Grand Café de la Paix Béziers, Notgeld, undatiert, ohne Nominal;
ausserdem eine Spiel- oder eine Depotmarke

PS: Diesen Ausflug in die Rues et Cafés widme ich einem 2008 verstorbenen Kollegen de Paris d'antan — Guy Cifré, dem Goldschürfer und Gründer von Numistoria, in bester Erinnerung an alte Zeiten.

PPS: Im Sommer 2014, beim Entrümpeln alter Korrespondenz fand ich zum kontroversen Thema dieses Schreiben des Pariser Café de la Paix.

P³S: Auf ebay und anderswo werden wertlose Nachdrucke des «Café de la Paix» angeboten, z.B. #1326; my 2¢ gratis, als druckbares JPG oder PDF (ohne «geprägtes Trockensiegel», sicher minder «gelungen» und weniger «hochwertig» — dafür günstiger und ebenso eine Kopie ;-)

PP²S: Die Medailleurin und Bildhauerin Aleth Guzman-Nageotte starb tatsächlich 1973, wie der Grabstein auf dem Pariser Friedhof Montparnasse bezeugt; dass fast überall 1978 als Todesjahr angegeben wird, ist ein typisches Phänomen (nicht nur) im Internet: don't ask, just copy/paste …

5êmePS: Mittlerweile hätte ich es fast vergessen, doch im Juni 2017 entdeckte ich das seit langem gesuchte Dokument: ein Aktienzertifikat des legendären Pariser Grand-Hôtel …

«Société du Grand-Hôtel S.A.»
Société du Grand-Hôtel S.A., Paris 1924,
ein seltenes Zertifikat über 100 Aktien zu je FFR 100

Die Vignette zeigt die nunmehr über 150 Jahre alte Herberge im runden Eck Boulevard des Capucines/Place de l'Opéra/Rue Auber und im Détail den Auslöser dieser Reise: das weltberühmte «Café de la Paix».

Quellen:
• alle Photos aus Béziers: courtesy of Nina
• im Text und in den External Links genannte sowie eigene Unterlagen

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